Die Digitalisierung des produzierenden Mittelstands stockt. Gerade KMUs wissen oft nicht, wie der erste oder nächste digitale Schritt gelingen soll. Digitale Testfabriken und IIoT Test Beds schaffen mit Praxis-Know-how und Macher-Mentalität Abhilfe.
»Wir wollten keine Sensoren, die uns erst während der laufenden Produktion Fehler melden. Wir brauchten intelligente Kameras, die beim [falschen] Einlegen des Materials in die Maschine direkt Alarm schlagen«, sagt Matthias Lütkemeier, Geschäftsführer des Dresdner Fertigers EPL. »Die Produktionsstraße ist ausreichend automatisiert. Uns fehlte jemand, der uns die Augen für wirkliche Industrie-4.0-Konzepte öffnet, uns bei der Technologie-Entwicklung unterstützt und mit uns erarbeitet, welche Dinge für die Digitalisierung unserer Fertigung relevant sind.«
Die Situation von EPL mit seinen 180 Mitarbeitern ist exemplarisch für die stockende Digitalisierung des produzierenden Mittelstands in Deutschland. Eine aktuelle Studie der Plattform Industrie 4.0 zum Einsatz von künstlicher Intelligenz zeigt deutlich, dass KMUs häufig weder in Prozessen noch Produkten digitalisiert sind. Die unzureichende digitale Infrastruktur verhindert, dass KI-Anwendungen und datengetriebene Geschäftsmodelle zum Einsatz kommen. Es fehlt bei den Fertigern dabei nicht an Ideen; der Bitkom-Verband hat den Mangel an Fachkräften, unklare Datensicherheit, fehlendes Wissen um digitales Wertschöpfungspotenzial sowie die schwierige Integration in bestehende Produktionsanlagen als die Haupt-Hemmnisse für mittelständische Digitalinitiativen identifiziert. Um im globalen Wettbewerb anschlussfähig zu bleiben, ist dringend Hilfe gefragt.
Digitale Testfabriken und IIoT Testbeds adressieren die typischen Digitalisierungshürden von kleinen und mittelständischen Fertigern; rund 80 dieser Lernfabriken gibt es derzeit deutschlandweit. Die vollautomatisierten Modellproduktionen sollen Managern und Entwicklungschefs, Produktionsleitern und auch Werkern in Machermentalität die Möglichkeiten der modernen Sensorik, Robotik, Automatisierung, additiven Fertigung sowie Daten- und KI-Ansätze demonstrieren. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können sich an Industrie-4.0-Beispielen ‚zum Anfassen‘ orientieren und werden in Transfer- und Umsetzungsprojekten gezielt begleitet.
»Die Grundzüge der digitalen Transformation sind in jeder Branche, in jeder Firma dieselben,« sagt Dr. Jochen Nelles, der das Digital Capability Center (DCC) Aachen operativ leitet, eine Kooperation der ITA Gruppe, einer Ausgründung des Instituts für Textiltechnik der RWTH Aachen, und der Unternehmensberatung McKinsey. »Es geht um Qualitätssicherung, Maschinenskills, Daten- und KI-Management sowie Energieeinsparungen,« so Nelles. Seit November 2017 begleitet das DCC große wie kleine Unternehmen auf ihren ersten oder weiterführenden Schritten zur digitalen Fabrik. »Das DCC soll für die Firmen Spielwiese und Testfeld sein. Wir wollen zeigen, was technisch möglich ist und gemeinsam mit den Kunden herausfinden, was Sinn macht,« beschreibt Nelles die Herangehensweise.
Der Aachener Shopfloor ist eine typische Brownfield-Anlage, sie fertigt in sechs Produktionsschritten RFID-Armbänder. Die lindgrünen Anlagen sind Lean-optimiert, aber zunächst fast gar nicht digitalisiert; die Werker arbeiten nach festen Prozessen, aber nicht agil. Die zusammenhängende Beispielproduktion deckt die prozessualen Zusammenhänge zwischen den Workflows an den verschiedenen Stationen und die teuren Auswirkungen eines einzelnen Fehlers auf Produktionszeit, Material, Werkerstunden und Maschinenstillstand auf. Für das digitale Neudenken müssen Firmen innerhalb der hier stattfindenden Workshops ihre Beobachtungen, die Fehlerquellen und erste Digital-Ideen sammeln.
Das Besondere in Aachen: Die Brownfield-Produktion kann in rund 90 Minuten auf ‚digital und smart‘ umgebaut werden und so realitätsgetreu alle Prozessschritte von analog zu digital vorführen. Innerhalb einer Mittagspause statten die DCC-Werker den Shopfloor mit Sensoren, intelligenten Kameras, RFID Checkpoints, einem Autostore-Lager, einem AGV-Roboter, Tablets, Monitoren, Dashboards und einem Edge Cloud Server aus. ‚Learning by doing‘ ist die Devise, theoretisches Wissen wird an praktischen Beispielen in wirkliches Verständnis umgewandelt. »Wir zeigen den Firmen, wie sie ein Praxis-Problem ihres realen Shopfloors in einen digitalen Use Case übersetzen«, so Nelles. Die Rentabilität des Business Case wird in den Workshops anhand aktueller Unternehmensdaten und Produktionszahlen konkret gerechnet. So kann eine Idee zur Erhöhung der Anlageneffizienz durch Digitalisierung direkt mit Kosten und Payback Time bewertet werden.